Fortsetung des Interviews mit Harald Siebler

Es war ein langer Prozess, bis ich den Stoff gefunden hatte, und als ich dann in irgendeiner Runde das Grundgesetz als Filmstoff auf den Tisch brachte, wurde – das kann sich wahrscheinlich jeder lebhaft vorstellen – gelacht und Scherze gemacht und die erste Ansage war: „Da kann man auch das Telefonbuch verfil-men“, und wurde mit einer gehörigen Portion Häme vom Tisch gewischt. Ich fand das merkwürdig. Mich hat es auch seltsam berührt, weil ich immer dachte, „Grundge-setz - das ist eigentlich doch so was Ähnliches wie die 10 Gebote.“

Dann habe ich es in einer Nacht erst mal ganz gelesen und es war mir peinlich,
weil mir klar wurde, dass ich es gar nicht kannte. Zumindest nicht genug. Ich hatte mich immer für einen kritischen Bürger gehalten, hatte auch kritische Arbeiten gemacht auf dem Theater, aber das hier, das war etwas ganz anderes, und ich habe mich ein bisschen geschämt: Alle laufen rum und kennen das Grundgesetz, nur ich kenne es nicht.“ Na ja, hab ich mir gesagt, vielleicht kennen es die anderen ja auch nicht, und habe mich umgehört und mich darüber unterhalten und siehe: Eine Meinung dazu haben viele, Ahnung davon wenige.

Und das erschreckte mich fast noch mehr, aber ich fand, wenn es nicht nur mich angeht, sondern auch noch andere Leute, eigentlich jeden, dann ist das ja ein Zielpublikum von mind. 40 Millionen, das ist ein Riesenpotential an Leuten, die sich eigentlich dafür interessieren sollten, könnten, müssten. Auf dieser Basis habe ich mich diesem Stoff genähert und festgestellt, dass ja aus jedem Artikel noch viel mehr rauszuholen ist, und dass das Grundgesetz in seiner Gesamtheit der Teppich ist, auf dem wir liegen; keine wahllose Aneinanderreihung von Überlegungen, Erkenntnissen, Forderungen, Richtlinien oder Gesetzmäßigkeiten, sondern der Boden. Es soll ja die Basis sein, auf die auch andere bauen können.

Auch wenn die Artikel zum Teil weit auseinander liegen, haben sie alle etwas miteinander zu tun, gedanklich, inhaltlich und folgerichtig. Der eine geht nicht ohne den anderen. Wir sollten selbstkritisch sein, denn der Einzelne ist laut Grundgesetz für das verantwortlich, was hier passiert. Und wenn das Individuum in einer Ge-meinschaft die volle Verantwortung für das hat, was passiert, dann muss man anfangen, über Verantwortung und Umgang mit Verantwortung anders nachzu-denken. Wir argumentieren immer noch, die „da oben“, die Politiker oder die Wirtschaft sind verantwortlich. Das ist eine Verallgemeinerung, die immer zu irgend-welchen Fronten und im schlimmsten Fall zu Kriegen führt. In welche Richtung wollen wir? Wollen wir das so lassen und es akzeptieren? Dann muss man aber auch akzeptieren und zulassen, dass in Sachsen der Rechtsruck immer offen-sichtlicher wird und im gesamten Osten Deutschlands die Demokratiever-drossenheit zunimmt. Dann müssen wir auch den Unkenruf von Altbundes-präsident Herzog einfach hinnehmen, der sagt, dass die parlamentarische Demo-kratie in Deutschland gefährdet ist. Der verhallt in der Masse, denn es ist den Leuten anscheinend egal.

All diese Dinge haben mich dazu gebracht zu sagen: „Das ist ein spannender Stoff: Wie lebt man den demokratischen Gedanken?“ Es geht mir um den Versuch, herauszufinden, wie weit man mit Leuten kommt, die das nicht trainiert haben, die die Demokratie nicht beherrschen. Man kann ja von Leuten nicht etwas verlangen, was sie gar nicht können, nicht gelernt haben. Es wird ja auch nicht gelehrt, höchstens mal kurz umrissen in der Schule. Wir sind Demokraten, weil wir’s mit
der Muttermilch aufgesogen haben und einfach können, genau so wie wir alle
Eltern sein können ohne es jemals gelernt zu haben.

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